Angst kann helfen, vor Gefahren zu warnen und entsprechende überlebenssichernde Maßnahmen zu setzen, sie kann aber auch pathologisch und damit nicht mehr rational steuerbar werden. Aktuelle Ereignisse und technische Neuerungen können Ängste auslösen, indem sie für manche Menschen nicht „be-greifbar“ sind.
Herr Dr. Grundschober, welche Bedeutung hat Angst für den Menschen?
Dr. Gerald Grundschober: Angst ist in vielen Situationen sinnvoll, sie hilft uns, vor Gefahren zu warnen und entsprechende Reaktionen zu setzen. Dazu zählt etwa zu flüchten und so unser Überleben zu sichern (beispielsweise das prähistorische „Davonrennen vor dem Säbelzahntiger“). Angst kann uns lähmen oder auch motivieren – durch die Überwindung einer Angstsituation erleben wir uns gestärkt und können uns weiterentwickeln. Es gibt aber auch Angstgefühle, bei denen ein realer Angsthintergrund in diesem Moment nicht vorhanden ist.
Was spielt sich bei einer Angstreaktion physiologisch ab?
Unser Gehirn interpretiert die Sinneswahrnehmung aus der Umgebung, aufbauend auf den Erfahrungen der Vergangenheit, und muss in verschiedenen Situationen schnell entscheiden, wie reagiert werden soll. Von der Großhirnrinde gelangt die Information ans Limbische System, der Bewertungsstelle der Gefühle, und von dort zum Hypothalamus. Von dort wird Corticotropin-releasing Hormone (CRH) ausgeschüttet, das in der Hypophyse zur Ausschüttung von Adrenokortikotropic Hormone (ACTH) führt. Dieses wiederum produziert in der Nebennierenrinde Glukokortikoide. Zeitgleich wird auch über den Sympathikus direkt, ohne Einschaltung der Großhirnrinde, das Nebennierenmark aktiviert, wo innerhalb von Sekunden vorrangig Adrenalin evoziert wird. Diese neuronalen Angstregelkreise sind adaptiv: Bei langfristiger Angstwahrnehmung oder nach schweren Traumata verändern sich diese Regelkreise und „feuern“ schneller und dann auch oft bei unbegründeten Ereignissen.
Wie kann sich Angst körperlich äußern?
Die Herzfrequenz erhöht sich, der Blutdruck steigt, wir schwitzen, die Bronchien werden weit, damit wir besser atmen können. Appetit und Verdauung gehen zurück, kalter Schweiß tritt auf, Sexualität wird nachrangig. Energiereserven werden aufgebraucht, wir sind angespannt bis aggressiv und fokussiert auf die Gefahr. Diese und weitere körperliche Darstellungen können nachhaltige Auswirkungen auf uns haben und fördern Kopfschmerzen und Muskelverspannungen, Appetenz- und Schlafstörungen, erhöhen die allgemeine Infektanfälligkeit, führen zu Depressionen und zum Krankheitsbild der diversen Angststörungen.
Kann eine Grenze zwischen „normaler“ und „krankhafter/krankmachender“ Angst definiert werden?
Die „normale“ Angst wird dann pathologisch, wenn harmlose Auslöser starke Angstreaktionen hervorrufen, wenn die Angst nicht mehr kontrollierbar und steuerbar ist, wenn sie sich ausweitet auf viele Bereiche und den Alltag beherrscht oder verunmöglicht, wie zum Beispiel eine Flugangst. Oft sind die Übergänge von gesunder Angst hin zur krankmachenden Angst nicht gleich wahrnehmbar, manche Patienten können hingegen die Entwicklung gut beschreiben. Angststörungen sind die häufigsten psychischen Krankheiten, rund 10 % der Bevölkerung leiden darunter, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind. Die Hälfte der Patienten leidet zusätzlich unter einer anderen psychischen Erkrankung wie Depression und Suchterkrankungen.
Mit welchen Ängsten sind die Menschen in der modernen Gesellschaft konfrontiert?
Reale Ängste sind immer ein Spiegelbild dessen, was gerade auf der Welt passiert, und einige Entwicklungen machen uns allen Angst, Stichwort Corona oder nichteinschätzbare politische Entwicklungen. Diese Ängste wiederum steuern unsere Einstellungen und Handlungen gegenüber den Angstauslösern: Wir negieren sie, wir versuchen andere – eventuell vordergründig besser verstehbare – Erklärungsmodelle anzunehmen, wir gehen in die innere Immigration oder wir entwickeln (Zwangs)Handlungen, mit denen wir die Angstbelastung scheinbar in den Griff zu bekommen versuchen, wie zum Beispiel Corona-bedingt ein obsessives Händewaschen.
Andere Belastungen unserer heutigen Zeit sind Elektrosmog oder auch die Strahlung durch Mobilfunk. Ob und inwieweit dies eine echte Belastung ist, muss die Wissenschaft klären. Aus psychischer Sicht ist es verstehbar, dass man davor Unsicherheit oder Angst haben kann. Die Übertragung von zum Beispiel ganzen Filmen über unsichtbare, nichtwahrnehmbare elektromagnetische Strahlung ist uns Menschen nicht „be-greifbar“ – wir können es uns nicht erklären, es ist nicht einfach nachvollziehbar. Ein Kabel wie beim alten Festnetztelefon ist angreifbar und hilft uns symbolisch, die Technik besser zu verstehen, obwohl es genauso „unverstehbar“ ist. Und für Teile der Bevölkerung ist die rasche Entwicklung des Möglichen auf dem Gebiet der neuen Techniken und Techniklösungen eine reale Überforderung. Dies kann sich in die realen Lebensfelder der Menschen hinein, wie Chancen in der Berufswelt, negativ auswirken. Hier, und bei allen Krankheiten, ist es besonders wichtig zu verstehen, woher diese spezifische Angst ihre Wurzel hat.
Mit einem Patienten habe ich in Gesprächen herausgefunden, dass er die neuen Mobiltelefone deswegen ablehnt, weil er sich selbst überfordert sieht, weil er wegen einer Sehschwäche die Geräte nicht suffizient bedienen kann und weil sich viele Bereiche des Lebens, wie einfache Bankgeschäfte, in die digitale Welt verlagern. Hilfreich war für ihn eine Teilnahme an einem Volkshochschulkurs zum Thema „Erweiterter Umgang mit Mobiltelefonie“.
Welches sind die wichtigsten therapeutischen Prinzipien in der Behandlung von Menschen mit Ängsten?
Prinzipiell ist es wichtig, dass Menschen mit einer Angststörung gehört werden, dass sie darüber reden und mit ihrem Behandler eine stabile (psycho)therapeutische Bindung aufbauen können. Es ist nämlich nicht einfach, über diese Thematik zu sprechen, oft sind sich die Betroffenen der „Unsinnigkeit/Unnötigkeit“ der Ängste bewusst und schämen sich. Als nächstes ist Aufklärung von Seiten des Experten wichtig: Nur was ich verstehe, kann ich integrieren und „be-greifen“. Dadurch gelingt es den Betroffenen auch wieder, mehr in die eigene Handlungs- und Steuerfähigkeit der Wahrnehmungen einzusteigen, die Angstentwicklung zu beeinflussen, auch besser „aus-zu-halten“ und zu „überleben“. Primär und parallel wichtig sind Entspannungs-verfahren, moderate Bewegung und allgemeine Reduktion von Stress – nicht einfach, wenn man unter einer solchen Belastung steht.
Auch sollte man relativ schnell an die Unterstützung durch Medikamente denken, diese können Ängste reduzieren, den Schlaf fördern. Antidepressiva stabilisieren die Neurotransmitter und bewirken eine bessere „Arbeitsfähigkeit“ im Leben und in der Psychotherapie. Studien haben bewiesen, dass eine Kombinationstherapie am hilfreichsten ist und Langzeiterfolge am ehesten gegeben sind.